DER LETZTE TANZ VON «MONSIEUR PLUS»

Er geht – und vielleicht macht er sich unsterblich: Kylian Mbappé kann PSG vor dem Wechsel nach Madrid mit vier Titeln beschenken. Und alle Nörgler zum Schweigen bringen.

Alles immer seinetwegen, Triumph und Tristesse. Das ist der Fluch und der Segen des Fussballers Kylian Mbappé. Er ist, nun ja, unbedingt systemrelevant für Paris und Frankreich, ein bisschen über den Sport hinaus. Und das muss man aushalten können.

An guten Tagen nennen sie ihn «Monsieur Plus». An weniger guten Tagen kritisieren ihn die Franzosen masslos. Es kippt dann schnell ins Lächerliche. Sie tun so, als geziemte es sich nicht, dass der Beste auch mal mittelmässig drauf ist, als hätte der immer die Wahl. Ist er mal nicht entscheidend, schiesst er nicht ein, zwei, drei Tore, überläuft und umläuft er dabei nicht alle Gegner, als wären die hingepflanzte Kegel, diskutiert Frankreich über «Kykys» Attitüde. Ein Schuss Arroganz? Es ist dann jeweils, als verrate der beste französische Fussballer seit Michel Platini und Zinédine Zidane die völlig überdrehten Erwartungen, die man in ihn steckt.

Und das Verrückte daran? Mbappé erfüllt sie alle, fast immer und seit Beginn der Karriere, mit der Nonchalance eines Veteranen. Seine Reife ist sprichwörtlich.

Nun, ein paar Wochen vor seinem viel debattierten und noch immer nicht ganz spruchreifen Wechsel von Paris Saint-Germain zu Real Madrid im kommenden Sommer, hat der nun auch schon 25-jährige Junge aus Bondy in der Pariser Banlieue sogar die Chance, sein Adieu von seiner Stadt perfekt zu runden. Mit vier Trophäen in einer Saison. Den französischen Supercup haben die Pariser schon gewonnen, gegen Toulouse. Die Meisterschaft ist bald fällig, wahrscheinlich schon an diesem Samstag im Heimspiel gegen Le Havre. In der Coupe de France steht man im Final gegen Lyon, eine frühere und gerade ziemlich verwelkte Glorie.

Messi weg, Neymar weg – nun ist Mbappé der Patron

Aber natürlich zählt am Ende vor allem die Trophäe aller Trophäen, die Krone Europas. Und allein dass die noch in Griffweite liegt, fassbar fast, befeuert die Euphorien in der Stadt. Zum dritten Mal in der Vereinsgeschichte trägt PSG einen Halbfinal in der Champions League aus, das zweite Mal in der katarischen Ära mit ihren Milliarden des Emirs. Die Katarer hatten immer klargemacht, dass sie vor allem dafür gekommen waren: für die Herrschaft in Europa. Sie hatten sich mal fünf Jahre gegeben für ihr Ziel.

Nun sind dreizehn verstrichen seit der Übernahme des Clubs. Der Henkelpott ist also schon lange überfällig. Und weil man sich in Paris gegen den nächsten Gegner, gegen Borussia Dortmund, unvorsichtig viel Hoffnung macht, scheint die Apotheose diesmal tatsächlich möglich zu sein: eine Pariser Premiere, im Endspiel von Wembley. Ausgerechnet jetzt, in dieser Saison, da Mbappé der einzige Grossstar im Team ist, in seinem siebten Jahr beim Verein.

Im vergangenen Sommer hatte PSG seine Posterboys weggegeben: Lionel Messi und Neymar Junior. Mbappé stand bis dahin immer etwas im Schatten des Argentiniers und des Brasilianers. Selbst als er selbst schon sehr hell leuchtete, standen die zwei in der internationalen Attraktionsskala noch ein paar Stufen höher als der Sohn der Stadt. Nun aber war Mbappé der Patron.

Die Pariser stellten ein junges Team zusammen, eine Nuance weniger galaktisch als das bisherige. Sie holten Kumpel von Mbappé dazu, auch seinen besten überhaupt: Ousmane Dembélé, den ehemaligen Dortmunder, der in Paris richtig auflebt. Vielleicht hofften sie bei PSG, dass sich KM überzeugen lassen würde, ein weiteres Jahr anzuhängen, wenn man ihm nur die passende Gesellschaft böte.

Neuer Geist dank Luis Enrique

Dann stellten sie einen Trainer an, von dem sie wussten, dass er nicht kuschen würde vor prominenten Namen: Der Spanier Luis Enrique hatte davor schon den FC Barcelona und die spanische Nationalmannschaft gecoacht. Ein Mann mit Charakter, stolz, trotzig, nicht immer einfach. Enrique hat den Ruf, dass er viel fordert von seinen Spielern und dann nur auf die Meriten schaut.

Plötzlich war da einer, der die Aufstellung scheinbar wild durcheinanderwirbelte, der experimentierte mit den Akteuren und ihnen neue Rollen zuwies, damit sie in seine taktischen Pläne passten. Es kam vor, dass Enrique seine Startformation erst zwei Stunden vor Spielbeginn überhaupt bekannt gab – und zwar den Spielern selbst. Er rotierte auch ständig mit seinem Personal, damit möglichst alle Mitglieder aus dem Kader regelmässig Spielzeit bekamen.

Zunächst war das ein ruppiger Weg. Die Fussballkommentatoren im Land, die stets einen scharfen Tonfall anschlagen, schärfer etwa als die Kollegen in Italien oder Spanien, waren gar überscharf in ihrer Kritik. Sie waren wohl auch oft überfordert mit der Exegese von Enriques Denken. Der Spanier gibt nicht viel von sich preis und das wenige immer auf Spanisch: Französisch spricht er öffentlich nie.

Mit der Zeit aber wuchs da eine geeinte Mannschaft heran, ein Kollektiv, wie es PSG seit 2011 nicht mehr gehabt hat. Früher war es so, dass die teuer erworbenen Stars in der Offensive es nur selten für nötig gehalten hatten, auch defensive Aufgaben zu übernehmen, sie waren sich dafür zu schade, gerade in der Meisterschaft. Das Team bestand aus zusammenhanglosen Teilen, es war, um es mit einem Euphemismus zu sagen, nicht oft choral. Ein Ensemble von Solisten war das. Und Seele? Hatte es auch nicht. Wie oft sprach man doch in Paris nach Enttäuschungen in der Champions League von fehlender Identität. PSG wirkte wie ein Hors-sol-Gemüse.

Nun ist Paris ein Team, im noblen Sinn. Die vielen Rotationen führten dazu, dass sich alle Spieler beteiligt fühlen am Projekt: Wenn ihr Moment kommt, engagieren sie sich. Das ist neu.

Man hat das im Rückspiel im Viertelfinal gegen Barça gesehen, in Barcelona. Das Hinspiel hatten die Pariser 2:3 verloren, mit einem mediokren Mbappé. Und auch im Olympiastadion auf dem Montjuïc gerieten sie schnell in Rückstand. Doch dann gelang die Remontada, ein 4:1, eine Revanche für jenes spektakulär desaströse 1:6 gegen die Katalanen im Jahr 2017. Damals war Luis Enrique Trainer von Barça gewesen, die Geschichte in der Geschichte.

«Lucho», wie sie ihn rufen, ist der neue, der eigentliche Star von PSG. Die Vereinsbesitzer sind verzaubert, Sportdirektor Luis Campos ist beglückt, die Spieler sind begeistert. Er kann auch lustig sein, der Spanier. Nur mit Mbappé gab es Momente des Unverständnisses, halbe Staatsaffären waren das. Nachdem der Stürmer seinen Weggang bekannt gegeben hatte, Mitte Februar, setzte ihn der Trainer nicht mehr immer ein, er wechselt ihn auch mal früh aus, oder er wechselt ihn erst spät ein. Wollte er da schon mal testen, ob es auch ohne den Systemrelevanten geht? Oder stand dem Emir der Sinn nach einer Bestrafung?

Die Schmach der frühen Auswechslung

«Kyky» ertrug das neue Regime nicht so gut. Zwei Szenen wurden zu Aufregern. In Monaco, wo Mbappé seine Lehrjahre verbracht hatte, nahm ihn Enrique in der Pause schon raus, eine Schmach für jeden Spieler. Mbappé setzte sich danach auf die Ehrentribüne des Stade Louis II, neben seine Mutter, die auch seine Agentin ist. Als wollte er es sich verbitten, dass man ihn, Kylian Mbappé, Weltmeister 2018 und WM-Finalist 2022, in der Pause auswechselt wie einen «Monsieur Minus».

Ein paar Wochen später dann sein letzter französischer Classico, OM gegen PSG, in Marseille. Wieder holte ihn Enrique früh vom Platz. Mbappé postete danach ein Foto auf Instagram, das ihn von hinten zeigt, im Regen des Stade Vélodrome, den Kopf gesenkt, die Captainbinde in der rechten Hand. Kommentarlos. Der Abschied, schon mal in ein Bild gegossen.

Es gab nun Spiele, in denen Mbappé lustlos wirkte, frustriert, schlecht behandelt. Hat er nicht sieben Jahre ausgehalten in der französischen Fussballprovinz und allen tollen Lockrufen aus dem Ausland widerstanden? Für Paris, für die Heimat? Zidane und Platini waren im Ausland gross gewesen, er aber schenkte der Republik viel Zeit. Und dann das?

Es kam jetzt auch oft vor, dass er nach gescheiterten Angriffen ungebührend lange im Abseits stehen blieb und dann aufreizend langsam zurückmarschierte. Sogar Pfiffe gab es dafür. In den Talkshows hiess es, Mbappé sei Captain, der Rolle müsse er sich würdig zeigen, und zwar bis zum Schluss.

Der letzte Tanz läuft, es kann ein runder werden, ein Ehrentanz. Und war es nicht oft so in der Vergangenheit, dass Kylian Mbappé dann besonders grandios war, wenn alle auf ihn schauten, die ganze Welt, als wäre das kein Druck? 43 Tore hat er in dieser Saison schon erzielt, in 43 Spielen. Monsieur Plusplus.

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